|
Der
Steinjunge „Ho,
mita koda!“ (Willkommen. Freund!) begrüßte mich Rauchiger Tag, als ich seine
Hütte betrat. „Ich hoffe“, sagte er an diesem dritten Tag, „du hast nicht
von einer Wasserschlacht mit den Ojibwa geträumt, nach der Geschichte, die
ich dir gestern erzählte.“ Ein Lächeln stand auf dem Gesicht des alten
Weisen. „Nein“, sagte ich schüchtern, „aber andererseits hätte ich mir
gewünscht, dass die Sonne etwas schneller reisen würde, damit ich bald wieder
zu einer weiteren Geschichte komme.“ „Nun,
diesmal werde ich dir eine Geschichte der Art erzählen, die wir Mythen oder Märchen
nennen. Sie handeln von Männern und Frauen, die wunderbare Dinge tun. Dinge, zu
denen die gewöhnlichen Sterblichen nicht in der Lage wären. Manchmal sind die
Helden auch nicht so wie die menschlichen Wesen, weil sie die Natur von Tieren
oder Göttern annehmen. Ich sage dir das schon jetzt, damit du mich dann nicht
mit Fragen unterbrichst und dich nicht darüber wunderst, dass diese Personen
mal dies und mal jenes werden. Einmal
waren da zehn Brüder, die lebten mit ihrer einzigen Schwester zusammen, einem
jungen Mädchen von sechzehn Sommern. Sie war sehr geschickt, wenn sie stickte,
und alle Brüder besaßen schön gearbeitete Köcher und Bogen, die mit
Stachelschwein-Quasten verziert waren. Ihre Brüder liebten sie und behandelten
sie sehr freundlich, und auch das Mädchen liebte seine Brüder sehr und war
recht zufrieden, dass es ihnen den Haushalt führen durfte. Sie waren alle große
Jäger und blieben kaum einen Tag daheim, und wenn sie am Abend zurück waren,
berichteten sie von ihren Abenteuern. Eines
Nachts kam der eine nicht von der Jagd heim. Es war der Älteste, der fehlte.
Sie nahmen an, er sei einem Reh zu weit gefolgt oder habe vielleicht mehr Wild
geschossen, als er tragen konnte, aber seine Schwester hatte eine Vorahnung,
dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein könne. Der zweite Bruder tröstete
sie. Er sagte, er werde den Vermissten am anderen Morgen suchen gehen. Das tat
er denn auch, während die anderen wie üblich auf die Jagd gingen. Gegen Abend
kehrten alle wohlbehalten zurück, bis auf den Bruder, der den Altesten suchen
gegangen war. Am nächsten Tag ging wieder einer auf die Suche nach den
Vermissten, und auch er kam nicht mehr zurück. So verschwanden alle jungen Männer
einer nach dem anderen, bis das Mädchen ganz allein war. Ihr
Kummer war groß. Sie wanderte umher. Sie weinte und hielt nach ihren Brüdern
Ausschau, fand aber keine Spur von ihnen. Eines Tages ging sie an einem kleinen
Bach entlang, dessen Wasser klar dahinfloss. Sie konnte einen glitzernden Kiesel
auf dem Grund sehen, und der schien ihren verweinten Augen besonders schön. Da
blieb sie stehen, holte ihn aus dem Wasser und steckte ihn in ihr Fellkleid
unter ihren Busen. Zum ersten Mal seit dem Verschwinden der Brüder waren Kummer
und Sorgen vergessen. Schließlich
ging sie heim, glücklich wie schon seit langem nicht, und wusste keinen Grund
dafür zu nennen. Am folgenden Tag suchte sie wieder die Stelle auf, an der sie
den Kiesel gefunden hatte, und diesmal schlief sie am Ufer des Baches ein. Als
sie erwachte, lag ein Baby an ihrem Busen. Sie nahm es auf, herzte und küsste
es. Das Kind war ein Junge, aber es war schwer wie ein Stein, und deshalb nannte
sie es Steinjunge. Das Mädchen weinte nicht mehr, denn es war glücklich mit
seinem Baby. Das Kind war ungewöhnlich gescheit und konnte fast von Geburt an
gehen. Eines
Tages entdeckte Steinjunge den Bogen und die Pfeile von einem seiner Onkel und
wollte sie haben, aber die Mutter sagte: „Warte, mein Sohn, bis du ein junger
Mann bist!“ Sie
machte ihm einen Spielzeugbogen, und mit dem lernte er bald kleineres Wild zu
erlegen, genug, um sie beide durchzubringen. Als er nun zu einem großen Jungen
herangewachsen war, bestand er darauf zu erfahren, wem die zehn Bogen gehörten,
die an der Wand der Hütte seiner Mutter hingen. Da
erzählte sie ihm die traurige Geschichte vorn Verschwinden all ihrer Brüder. „Mutter.
ich werde meine Onkel suchen gehen“, rief Steinjunge aus. „Dann
werde ich dich, wie schon sie, auch noch verlieren“, erwiderte die Mutter.
„Ich würde vor Kummer sterben“. „Nein,
ich gehe schon nicht verloren. Ich bringe dir deine zehn Brüder zurück. Schau,
ich gebe dir ein Zeichen. Ich nehme hier dieses Kissen und lege es dort an jene
Stelle. Behalte es immer im Auge. Solange ich lebe, wird das Kissen immer so
stehen, wie ich es jetzt hingesetzt habe. Mutter, gib mir nur Proviant und
einige Mokassins für die Reise!“ Er
griff sich einen Bogen, und mit einem Köcher voller Pfeile machte sich
Steinjunge auf den Weg. Während er durch den Wald reiste, sprach er mit jedem
Tier, das er traf, und fragte, ob es etwas über seine Verwandten wisse.
Manchmal brüllte er laut. Wenn er meinte, irgendwo so etwas wie eine Antwort zu
vernehmen, ging er sofort in die Richtung dieses Geräusches. So traf er einen
großen Grizzlybär, der absichtlich den Ruf des Jungen nachgemacht hatte.
Steinjunge war erschrocken. „Warst
du es, der auf mein Rufen geantwortet hat, Langgesicht?“ fragte er. Der
Bär brummte und sprach: „Du überlegst dir besser, wie du mich anredest, oder
es wird dir noch einmal leid tun!“„Wer fragt schon nach dir, du rotes
Triefauge, du hässliches Vieh“, erwiderte der Junge, worauf der Bär sich auf
ihn stürzte. Aber
das Fleisch des Jungen wurde hart wie Stein, und die großen Zähne und Klauen
des Bären hinterließen darin keine Eindrücke. Außerdem war er so
schrecklich schwer, und die ganze Zeit lachte er, als habe ihn jemand gekitzelt,
was den Bären noch mehr verwirrte. Endlich stieß Steinjunge ihn beiseite und
schoss ihm einen Pfeil ins Herz. Er
ging ein Stück weiter, bis er an einen gewaltigen umgestürzten Fichtenbaum
kam, der offensichtlich vom Blitz getroffen worden war. Der Boden in der Nähe
des Baumes wies die Spuren eines Kampfes auf, und Steinjunge sammelte mehrere
Pfeile ein, die denen seiner Verwandten glichen. Während
er sich umsah, hörte er das Geräusch wie von einem Wirbelwind, weit fort im
Himmel. Er schaute auf und erkannte einen schwarzen Fleck, der rasch größer
wurde und zu einer dichten Wolke anwuchs. Aus der Wolke hervor kamen
Blitz und Donner. Der Junge musste die Augen zukneifen, und als er sie wieder
auftat, siehe da! Ein stattlicher Mann stand vor ihm und forderte ihn zu einem
Kampf heraus. Steinjunge
nahm die Herausforderung an, und sie rangen miteinander. Der Mann aus den Wolken
war von gewaltiger Größe und sehr kräftig. Aber Steinjunge war sowohl stark
als auch unnatürlich schwer. Der große Krieger vom Himmel schwitzte, und jetzt
fiel ein schwerer Regenschauer. Und immer wieder zuckten Blitze, während die
beiden miteinander kämpften. Schließlich warf Steinjunge seinen Gegner zu
Boden und dieser blieb regungslos liegen. Es gab ein murmelndes Geräusch im
Himmel, und die Wolken zogen rascher vorbei. „Nun“,
dachte der Junge, „dieser Mann muss all meine Verwandten erschlagen haben.
Ich werde zu seiner Behausung gehen und schauen, was aus ihnen
geworden ist.“ Er
zog aus der Skalplocke des toten Mannes eine wunderschöne scharlachrote
Flaumfeder. Er hauchte vorsichtig darauf, und als sie davon trieb in den blauen
Himmel, folgte er ihr. Fort
flog Steinjunge in das Land der Donnervögel. Es war ein schönes Land, mit
Seen, Flüssen, Ebenen und Gebirgen1 Der Junge fand sich auf der
Spitze eines hohen Gebirges wieder, und das Land schien ihm auch recht dicht
bevölkert, denn wohin er auch schaute, überall sah er Zelte und Hütten.
Besonders auffallend war ein riesiger Baum, der alle anderen überragte und in
dessen Krone ein riesiges Nest war. Steinjunge stieg aus dem Gebirge herab und
erreichte bald jenen Riesenbaum, aber es gab keine Äste, oder eben nur ganz
oben, und der Baum war so groß, dass er gar nicht erst den Versuch machte, ihn
zu besteigen. Er
nahm einfach die Flaumfeder, pustete und trieb langsam auf ihr aufwärts. Als
er in das Nest schauen konnte, erblickte er dort unzählige Eier verschiedener
Größe und alle von auffälliger roter Farbe. Immerhin war er noch ein Junge.
und als solcher war er neugierig und waghalsig. Als
er nun so sorglos mit den Eiern umging, fiel ihm plötzlich auf, dass sich in
dem kleinen Dorf unmittelbar unter dem Baum Unruhe erhob. Alle Leute kamen auf
den Baum zugelaufen. Er warf eines der Eier nach ihnen, und als es zerbrach, sah
er, wie einer der Männer tot hinstürzte. Dann begannen alle klagend zu rufen:
„Gib uns unsere Herzen wieder!“ „Ach“,
rief der Junge. „so ist das also. Es waren die Herzen dieser Leute, die meine
Verwandten töteten. Ich werde sie alle zerbrechen. Um mich mache ich mir keine
Sorgen, aber ich denke an dich, Mutter, und an euch, meine Onkel!“ Und
tatsächlich zerbrach er alle Eier mit Ausnahme von vier kleinen, die er in die
Hand nahm. Dann stieg er vom Baum herab und lief zwischen den verlassenen Hütten
umher, in der Hoffnung, dort auf eine Spur seiner Verwandten zu stoßen. Er fand
vier kleine Jungen, die einzigen Überlebenden ihres Volkes, und diesen befahl
er, ihm die Stelle zu zeigen, an der die Knochen der Onkel lagen. Sie
führten ihn zu einem Haufen Knochen, die gebleicht auf der Erde lagen. Dann bat
er einen der Jungen, Holz zu bringen, den zweiten bat er um Wasser, den dritten
um Steine, und dem vierten befahl er, Weidenstöcke für die Schwitzhütte
zurechtzuschneiden. Sie gehorchten, und der Steinjunge errichtete eine Schwitzhütte,
machte Feuer, erhitzte die Steine und sammelte in dieser Hütte die Gebeine
seiner zehn Onkel. Als
er das Wasser über die heißen Steine goss, hörte er ein schwaches Geräusch
in dem magischen Bad, das sich zu murmelnden Stimmen und endlich in den Gesang
von Medizinliedern veränderte. Steinjunge öffnete die Tür, und seine zehn
Onkel kamen froh und munter heraus. Sie dankten ihm und segneten ihn, weil er
ihnen das Leben gerettet hatte. Herzlos zerbrach Steinjunge nun die vier übriggebliebenen
Eier, denn bei seinem jüngsten Onkel fehlte der kleine Finger. Er wusste, dass
er so die vier überleb enden Jungen, die ihm geholfen hatten, um brachte. Und
das alles tat er nur, weil er von dem größten der vier Jungen den für den
kleinen Finger fehlenden Knochen nehmen wollte. Darauf kehrten sie auf die Erde zurück, und Steinjunge geleitete seine Onkel zu der Hütte seiner Mutter. Während der ganzen Zeit seiner Abwesenheit hatte sie nie geschlafen, sondern ständig das Kissen angestarrt, auf das der junge sich zu betten pflegte und das ihr anzeigen sollte, ob er noch am Leben sei. Er
lief etwas vor den anderen, und als sie näher kamen, rannte er auf die Hütte
zu und rief aus; Mutter, deine zehn Brüder kommen, bereite ein Fest ! „ Für
eine Zeit lebten sie alle glücklich zusammen. Steinjunge beschäftigte sich
damit, allein auf die Jagd zu gehen. Er war besonders darauf aus, die wilderen
unter den Tieren zu erlegen. Er tötete sie mutwillig und brachte nur Ohren, Zähne
und Klauen zu seinem Vergnügen mit heim, und damit spielte er, wenn
er lachend von seinen Taten erzählte. Seine Mutter und seine Onkel warnten
ihn und baten ihn, wenigstens jene Tiere zu verschonen, die den Dakota heilig
sind, aber Steinjunge vertraute auf seine übernatürlichen Kräfte, die ihn
beschützen würden. Eines
Abends aber war er auffällig still, und als man ihn nach dem Grund fragte,
erwiderte er: „Schon seit einigen Tagen ist mir zu Ohren gekommen, dass die
Tiere eine Verschwörung gegen uns aushecken. Ich ging heute morgen gen Westen,
als ich hörte, dass ein Ausrufer den bedingungslosen Kampf gegen Steinjunge und
seine Leute verkündete. Der Ausrufer war ein Büffel und lief mit großer
Geschwindigkeit von Westen nach Osten. Dann hörte ich eine Unterhaltung
zwischen dem Biber und der Bisamratte, und beide versprachen, dafür zu sorgen.
dass die Flüsse und Seen über ihre Ufer treten und eine verheerende Überschwemmung
hervorrufen würden. Ich hörte auch, dass die kleine Schwalbe alle Vögel zu
einer geheimen Beratung zusammen rief. Sie erzählte, man habe sie als Boten
zu den Donnervögeln geschickt und dass auf ein bestimmtes Zeichen hin sich die
Türen des Himmels auftun würden und so viel Regen fallen werde, dass
Steinjunge darin werde ertrinken müssen. Der alte Dachs und der Grizzlybär
sind dazu ausersehen worden, unsere Befestigungen zu unterminieren. Aber ich
habe keine Angst. Sorgen mache ich mir nur um dich. Mutter, und um euch, meine
Verwandten!“ „Ugh!“
riefen die Onkel, „haben wir dir nicht gesagt, dass es schlimm ausgehen werde,
wenn du weiter heilige Tiere zu deinem Vergnügen tötest?" „Ach
was“, erwiderte Steinjunge, „ich werde mir
eine Wehr bauen, und von euch erwarte ich, dass ihr mir helft.“ Also
gingen sie alle unter seiner Leitung an die Arbeit. Als erstes warf er einen
Stein in die Luft, und siehe da, eine große Steinwand wuchs auf um ihre Hütte.
Als zweites, drittes, viertes und fünftes warf er abermals Steine, und weitere
Mauern entstanden. Als sechstes und siebentes schuf er noch zwei steinerne Hütten.
Die Onkel füllten unterdessen Bogen und Köcher mit Steinen, die in Abständen
voneinander auf die Mauerbrüstung hingestellt wurden. Die Mutter aber richtete
große Mengen von Essen her und nähte viele Mokassins für den Jungen, der erklärte,
er wolle seine Festung allein verteidigen. Endlich
sah er die Armee der Tiere anrücken, jeder Stamm bildetet eine Gruppe. die von
einem Anführer ungewöhnlicher Größe kommandiert wurde. Es war ein
furchterregender Anblick. Sie rannten gegen die hohen Mauern mit wüstem
Geschrei, während die Dachse und andere Tiere, die unter der Erde wohnen ständig
damit beschäftigt waren, unterirdische Gänge zu graben. Steinjunge zielte e
mit seinen todbringenden Pfeilen so gut, dass die Feinde zu Tausenden
dahinsanken. So groß waren ihre Verluste, dass die Kadaver der toten Tiere sich
zu einem Wall türmten, höher als die äußerste der Mauern. Aber schon war
Verstärkung zur Stelle. Es goss in Bächen, die Biber hatte für eine gewaltige
Überschwemmung gesorgt. Die Belagerten zogen sich in die Hütte hinter der
innersten Mauer zurück, aber das Wasser drang dennoch ein durch die Furchen,
die die Dachse und Erdhörnchen gegraben hatten, und es stieg und stieg, bis die
Mutter des Steinjungen und seine Verwandten alle ertranken. Steinjunge selbst
konnten sie nicht umbringen, jedenfalls nicht gänzlich, aber seine Feinde überrannten
ihn und ließen ihn halb eingegraben in der Erde zurück, verdammt für immer,
und so können wir ihn heute noch sehen. Dies
war, weil er seine Stärke missbrauchte und aus bloßem Vergnügen das Leben
jener Geschöpfe zerstörte, die uns nur gegeben sind, damit wir Nutzen von
ihnen haben.“ Aus
„Märchen der Prärieindianer“, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, 1996 ISBN
3-596-13366-1
|
(c) 2016 The Free Bavarian Indians e.V. |