Der Diebstahl des Tageslichts

 

Der Riese flog landeinwärts, also nach Osten. Er flog eine lange Zeit, und als er endlich müde wurde, ließ er den kleinen runden Stein, den ihm sein Vater gegeben hatte, hinabfallen. Er wurde ein großer Felsen, der aus der See auf ragte. Der Riese ruhte sich darauf aus, erfrischte sich und legte sein Rabenkleid ab.

 Zu dieser Zeit gab es nur Dunkelheit. Tageslicht gab es nicht. Der Riese legte sein Rabengefieder wieder an und flog weiter gen Osten. Er erreichte das Festland und kam an die Mündung des Skeenaflusses. Dort hielt er inne und verstreute den Lachsrogen und den Forellenrogen. Und während er dies tat, sagte er: »Alle Flüsse und Bäche sollen voller Fische werden.«

 Dann nahm er die Beeren aus der Blase des Seelöwen, verstreute sie übers Land und sprach dazu: »Alle Gebirge, Hügel, Täler, Ebenen und das ganze Land sollen voller Früchte werden.«

 Die ganze Welt lag eingehüllt in Dunkelheit. Wenn der Himmel klar war, hatten die Leute ein bisschen Licht, das von den Sternen her zu ihnen drang, wenn aber Wolken am Himmel standen, war es pechschwarz überall. Die Leute wurden traurig davon. Der Riese überlegte sich, dass es ihm schwer fallen werde, sich immer Nahrung zu beschaffen, wenn es ständig dunkel war.

 Er erinnerte sich, dass es im Himmel, woher er gekommen war, Licht gegeben hatte. Also entschloss er sich,  das Licht herab auf die Welt zu bringen.

 Am folgenden Tag legte er sein Rabengefieder an, das ihm sein Vater mitgegeben hatte, und flog höher und höher. Endlich stieß er auf ein Loch im Himmel und zwängte sich hin durch. Drinnen legte er sein Rahengefieder ab und Iieß es nahe am Loch zurück. Er ging weiter und kam an eine Quelle nahe des Hauses, in dem der Häuptling des Himmels wohnte. Dort setzte er sich hin und wartete.

 Die Tochter des Häuptlings kam heraus. Sie trug einen kleinen Eimer, mir dem wollte sie Wasser schöpfen. Sie ging zu der großen Quelle hin, die vor dem Haus ihres Vaters sprudelte. Als der Riese sie kommen sah, verwandelte er sich in eine Zederna­del, die auf dem Wasser trieb. Die Häuptlingstochter schöpfte sie mit dem Wasser in den Eimer. Sie trank aus dem Eimer, und dabei verschluckte sie die Zedernadel. Sie kehrte in das Haus ihres Vaters zurück.

 Nach kurzer Zeit merkte sie, dass sie schwanger war, und sie gebar einen Jungen. Der Häuptling und seine Frau waren sehr froh darüber. Regelmäßig wuschen sie das Kind. Es begann zu wachsen. Es kroch schon herum. Sie wuschen es häufig, und der Häuptling sah darauf, dass der Fußboden des Hauses eben und sauber war.

 Das Kind war jetzt schon recht kräftig. Es begann zu schreien und rief »hama, hama!« Es weinte die ganze Zeit, und der große Häuptling machte sich Sorgen und rief einen seiner Sklaven herbei. Er befahl dem Sklaven, den Jungen herumzutragen. Der Sklave tat, wie ihm geheißen, aber der Junge wollte mehrere Nächte hindurch nicht schlafen. Immer rief er »hama, hama «.

 Deshalb lud der Häuptling endlich all seine weisen Männer ein, und sie sagten ihm, sie wüssten auch nicht, was das Kind wolle und warum es weine. Das Kind wollte aber eine Büchse, die im Haus des Häuptlings an der Wand hing. In dieser Büchse wurde das Tageslicht aufbewahrt.

 Die Büchse hing in einer Ecke des Hauses. Man nannte sie Ma. Der Riese kannte sie aus der Zeit, ehe er auf unsere Welt herabgekommen war. Das Kind weinte danach. Der Häuptling war zornig, und die weisen Männer hörten nur darauf, was der Häuptling ihnen erzählte. Aber dann weinte das Kind so laut, dass sie nicht mehr verstehen konnten, was der HäuptIing ihnen sagte. Und das Kind schrie wieder und wieder: »Hama, hama. hama !« 

Einer der weisen Männer verstand das Kind. Er sagte dem Häuptling: »Es will die Büchse.«

 Der Häuptling ließ die Büchse von der Wand nehmen. Der Mann stellte sie hin. Sie stellten sie nahe dem Feuer ab und setzten das Kind in die Nähe. Da hörte es auf zu weinen und schien vergnügt. Dann rollte es die Büchse über den Fußboden im Haus. Der Häuptling achtete nicht weiter darauf. Schließlich vergaß er die Büchse ganz und gar. Er hatte Wichtigeres zu tun und zu bedenken. Dann nahm der Junge die Büchse auf die Schulter und rannte mit ihr aus dem Haus.

Während er davonrannte, sagte jemand: »Der Riese rennt davon mit der Ma!“.

Er rannte, und die Scharen des Himmels verfolgten ihn. Sie riefen es allen zu: “‘Der Riese rennt fort mit dem Ma !“ Er kam an das Loch im Himmel, legte sein Rabengefieder an, flog hinab. Die Büchse aber nahm er mit.

Die Scharen der Himmlischen kehrten zu ihren Häusern zurück, und er flog hinab auf unsere Welt.

Zu jener Zeit war unsere Welt noch ganz dunkel! Er kam weiter oben am Fluss auf die Erde und wanderte den Fluss hinab. Der Riese kam an die Mündung des Nass River. Es war alles noch dunkel, und er trug die Büchse bei sich. Ein bisschen weiter noch, und er hörte den Lärm jener Leute, die Fische in Beutelnetzen von ihren Kanus fingen.

Es war viel Lärm auf dem Fluss, denn die Leute arbeiteten hart.

Der Riese saß am Ufer und sagte; »Werft ein Ding von allem, was ihr fangt ans Ufer, gute Leute!«

Nach einer Weile sagte der Riese wieder: »Werft jeweils einen Fisch von eurem Fang ans Ufer.«

Die auf dem Wasser schimpften auf ihn. »Da kommt so einer daher und spielt sich groß auf«, sagten sie. Die Tierleute wussten wohl, dass es der Riese war, aber sie wollten ihn necken.

Da sagte der Riese wieder; »Werft von jedem Fang einen Fisch ans Ufer, oder ich zerbreche diese Büchse hier.«

Aber alle, die auf dem Wasser arbeiteten, meinten: »Um den braucht man sich weiter nicht zu kümmern. Er ist ein An­geber.«

Der Riese wiederholte seine Aufforderung, aber die auf dem Wasser dachten nicht daran, auf ihn zu hören.

Da brach der Riese die Büchse auf. Heraus fuhr das Tageslicht. Der Nordwind begann scharf zu blasen. Alle Fischer, die Frösche, die sich über den Riesen lustig gemacht hatten, wurden vom Fluss vertrieben und auf die großen gebirgigen Inseln geweht. Hier versuchten sie, sich auf die Felsen zu flüchten, aber sie klebten da fest, erfroren im Nordwind und wurden zu Steinen. Und Steine sind sie immer noch. In der Welt aber war es jetzt hell, und jeder konnte die Dinge in der Nähe, aber auch die Dinge in der Ferne erkennen. Darüber freute sich der Riese. Er stampfte auf und tanzte. Da zitterte die Erde, und die Vulkane spien Feuer und Asche.

 

Aus: Hetmann, Indianermärchen aus Kanada

 

 

 

 

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